Ethik und Literatur: ein theoretischer Vorschlag

Die – im europäischen und nordamerikanischen Bereich ziemlich  gängige – Untersuchung der Beziehungen zwischen Ethik und Literatur ist in Italien traditionsgemäß eine Marginalie geblieben. Als indirekte Bestätigung dafür mögen die literaturkritischen Richtungen dienen, die im letzten Jahrhundert in Italien vorherrschten: Benedetto Croces Idealismus und der Strukturalismus. Für Croce ist die Poesie bekanntlich eine Erkenntnisform intuitiven Charakters, die durch Bilder vermittelt wird; als solche gehört sie dem theoretischen Bereich an und hat nichts mit der praktischen Sphäre, mit Ethik und Wirtschaft gemein. Werke mit moralischem und pädagogischem Zweck werden von Croce aus der “Poesie” verbannt und  zu schlichter “Literatur” herabgestuft, einer zwar durchaus respektablen Tätigkeit, die aber ohne künstlerische Bedeutung bleibt. In der Folge haben sich in Italien – auch als Reaktion auf Croces Idealismus und seine literarische Hegemonie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts – kritische Orientierungen formalistischer Prägung verbreitet, die sich an strukturalistischen Vorbildern  ausrichten. Da sie ihre Aufmerksamkeit der formalen Komposition der Werke, dem Spiel der Signifikanten und der linguistischen Textur widmen, haben die dem Strukturalismus angehörenden Kritiker jedoch in der Regel die inhaltsästhetischen Faktoren abgewertet, auf die – zu Unrecht oder Recht – die Ethik der Literatur zurückgeführt wird.

Auf den ersten Blick lässt sich kaum leugnen, dass dieses geringe Interesse für die Beziehungen zwischen Ethik und Literatur gute Gründe haben mag, vor allem, wenn man bedenkt, wie die ethisch-literarische Frage traditionsgemäß stets behandelt worden ist. Der normale Ansatz ist denn auch von unmittelbar pädagogischem Charakter und besteht darin, in einem Werk explizit moralische Werte, direkte Aussagen und  positive Verhaltensmodelle zu suchen (oder, sofern sie negativ sind, sie klar als solche zu präsentieren, um den Leser von etwaiger Nachahmung abzuhalten). Dieser traditionelle Ansatz hat im wesentlichen drei Grenzen: a) er neigt mehr oder weniger dazu, den literarischen Text zu instrumentalisieren, der auf diese Weise  aufhört, sich selbst zu bezwecken und für äußere Zwecke benutzt wird; b) er zeigt ein implizites Misstrauen  gegenüber der Literatur, die einer strengen Überwachung oder aufmerksamer Kontrolle unterzogen wird, statt ihren Funktionen in Freiheit nachkommen zu können; c) er geht oft gewalttätig mit dem Text um, insbesondere, wenn darin absolut eine ethische Aussage gefunden werden soll, die es tatsächlich gar  nicht gibt, wonach der Text dann mit Verachtung verworfen wird, eben weil er die gewünschte Aussage nicht enthält.

Es ist gar nicht so einfach, sich dieser traditionellen ethisch-literarischen Richtung zu entziehen, vor allem aus kulturgeschichtlichen Gründen. Dieser im wesentlichen inhaltsästhetische Ansatz entspricht nämlich einer sehr antiken Tradition, die sich bis auf Platon und Aristoteles zurückführt und die europäische Kultur bis ins 19. Jh. geprägt hat, bis dann eine konträre  und typisch moderne Auffassung sich durchzusetzen begann, nämlich die der Autonomie der Literatur. Bekanntlich geschah dies auf philosophischem Terrain  zwischen der Kritik der Urteilskraft von Kant und der Ästhetik Hegels und im literarischem Bereich zu der Zeit,  als die Schriftsteller begannen, die eigene Freiheit gegenüber der gesellschaftlich vorherrschenden Moral einzufordern. Die Autonomie der Literatur hat sich in der Tat hauptsächlich als Autonomie von der Ethik durchgesetzt; wenn man in diesem Sinn einen spezifischen Zeitpunkt festlegen wollte, könnte man an das Jahr 1857 denken, das Jahr der großen Prozesse gegen Madame Bovary und Les Fleurs du Mal. An zweiter Stelle erschwert ein weiterer Grund den Abschied  von der traditionellen ethisch-literarischen Auffassung  und zwar die Tatsache, dass dieselbe der Horizont ist, an dem man in der Schule mit der Literatur in Berührung kommt. Seit den ersten Schuljahren werden die Kinder geradezu aufgefordert, die Texte so zu lesen, dass sie daraus explizite und direkte Lehren ziehen sollen; wenn sie dann in späteren Jahren zur Literaturgeschichte übergehen, beginnt alles wieder von vorn, nämlich bei der traditionellen ethisch-inhaltsästhetischen Auffassung und erst sehr viel später kommt man bei der modernen Autonomie an.

Es verwundert also nicht, dass die traditionelle Auffassung – wenn auch in vermittelter Form – als historischer Hintergrund vieler heutiger Überlegungen über die Beziehungen zwischen Ethik und Literatur fortdauert und dass sie vielfach als faktischer Horizont eines “naiven” Lesens literarischer Texte überlebt. Insbesondere in den USA, in einem Kontext, der sich  mit dem europäischen nicht unmittelbar deckt, bildet diese traditionelle Perspektive das Gerüst für den sog. ethical criticism, eine ziemlich gefestigte Richtung, die aber Gefahr läuft, solche Probleme auf die Spitze zu treiben, die in der konventionellen Annäherung liegen. Tatsächlich endet so etwas oft in einer polemischen, inhaltsbezogenen Prüfung von Punkten, an denen die häufig aus zeitlich fernen  Epochen stammenden literarischen Werke nicht mit der heute vertretenen Ethik  übereinstimmen. In diesem Sinn werden z.B. die Romane von Jane Austen wegen der sozial untergeordneten Rolle der Frau kritisiert, Conrads Herz der Finsternis wird als tadelnswertes Zeugnis für europäischen Orientalismus und dessen Vorurteile gegenüber Afrika gelesen und Die Suche nach der verlorenen Zeit Prousts wird als Zeugnis von Egozentrismus und emotionalem  Solipsismus verworfen. Solch inhaltsästhetischer Moralismus mit seinem aktualisierenden Ansatz läuft Gefahr, unterwegs alles das zu verlieren, was in der Beziehung zum literarischen Text wirklich von Bedeutung ist, ohne übrigens große Vorteile dafür einzutauschen.

Man gewinnt also den Eindruck, dass eine wirklich praktikable Ethik der Literatur sich heute am Prinzip der Autonomie auszurichten habe; anders ausgedrückt: sie hat sich daran zu halten, wie der Text selbst vorgeht und nicht an seinem unmittelbaren Inhalt; bzw., um eine schon bei Platon vorhandene Unterscheidung zu verwenden, sie muss sich darauf beziehen, “wie” das literarische Werk sich präsentiert und ausdrückt und nicht darauf, “was” es sagt. In diesem Sinn empfehlen sich drei zentrale Kernpunkte einer möglichen literarischen Ethik. Der erste wird durch die Erkenntnis verkörpert bzw. durch die Tatsache, dass Literatur eine Form von emotional gekennzeichneter Erkenntnis und Interpretation der Welt ist, d.h. sie wird charakterisiert durch eine spezifische Anteilnahme und Identifizierung des Lesers mit dem, was im Text beschrieben wird. Der zweite Kernpunkt besteht in der pietas, d.h. in der mitleidvollen Aufmerksamkeit, durch die der literarische Text im Gedächtnis des Lesers dasjenige bewahrt, was sonst verloren ginge und zwar durch eine Logik, die der Konsum-Wirtschaft entgegengesetzt verläuft. Der dritte Kernpunkt besteht in der Orientierung, die auf zweierlei Weise vorgeht. Das Werk orientiert den Leser vor allem durch die vermittelten Erkenntnisse, in einer Kartographie, die blitzartige, punktförmige Bedeutungen herausfindet, die sich nie in einem gedanklichen System einordnen lassen. Zweitens orientiert das Werk den Leser in der Spätmoderne, indem es sich selbst als Modell, nämlich als eine von der pietas geprägte Erkenntnisform anbietet, die durch Aufmerksamkeit, Respekt und bewahrende Sorge gekennzeichnet ist.

Eine so resümierte Ethik der Literatur scheint, eben weil sie die Autonomie des Werkes voraussetzt und respektiert, die Grenzen der traditionellen Auffassung recht gut zu meiden. Vor allem aber ist es eine Weise, noch einmal die Bedeutung der literarischen Erfahrung zu bestätigen, auch in einer Epoche wie der unseren, die darauf ganz gern zu verzichten scheint. Man kann schwerlich leugnen, dass die Gesellschaften der Spätmoderne von etwas beherrscht werden, das Heidegger «rechnendes Denken»  oder Habermas «instrumentelle Rationalität» nennen (von jener Beziehung zur Welt, die schon Schiller gegen Ende des 18. Jh. als «tabellarischen Verstand» beklagte),  mit einem Wort: beherrscht von der zunehmenden Anwendung der ökonomischen Rationalität auf  alle Aspekte des Daseins. Wenn das wahr ist, bietet sich die Literatur – als teilnehmende, mitleidfähige und bewahrende Form der Erkenntnis, und als Orientierung des Lesers zu diesen Werten – ganz  konkret, wenn auch auf eine leise Weise, als alternatives Erfahrungsmodell zu den herrschenden Mustern und sie hilft dabei, das Durchdringungspotential der technisch-ökonomischen Logik im Zaum zu halten.

Näheres dazu bei:

Pino Menzio, Da Baudelaire al limite estetico. Etica e letteratura nella riflessione francese, Libreria Stampatori, Torino 2008.

Pino Menzio, Nel darsi della pagina. Un’etica della scrittura letteraria, Libreria Stampatori, Torino 2010.

Erkenntnis

Die Idee einer auf ihren Erkenntnischarakter gegründeten Ethik der Literatur wurde von Martha Nussbaum  in ihrem Werk Poetic Justice (1995) erörtert, das alsbald bei Diskussionen über dieses Thema zum Bezugspunkt wurde.[1] Nussbaum zufolge ist die Literatur eine typisch emotionale, empathische und identifizierende Form der Erkenntnis. Der Leser eines Romans oder einer Erzählung versetzt sich jeweils in die Lage der einzelnen Figuren, teilt deren Erfahrungen und lernt ihre Gefühle und Ideen von innen her kennen. Diese Gewohnheit, sich in andere hineinzuversetzen, ist eine Charakteristik der Rolle des Lesers und steigert unweigerlich seine Toleranz und sein Verständnis im täglichen Leben: wenn man so will, fördert sie eine Pluralisierung des Subjekts, das auf diese Weise an Dogmatik verliert und an Demokratie gewinnt. Des weiteren hilft der Roman – indem er jede seiner Figuren  in ihrer Individualität vorstellt – jene Stereotypen zu meiden, die oft genug die verbreitete Meinung bedingen, wonach eine einzelne Person  mit ihrer Geschichte und ihren Besonderheiten einer generellen Kategorie zugeordnet wird (z.B. die Personen mit Migrationshintergrund, die Politiker, die Amerikaner),  diese Kategorie auf ein negatives Stereotyp zurückgeführt wird (Gesetzesverstoß, bürokratischer Parasitismus, materialistischer Imperialismus) und der einzelne schließlich in der Dichotomie wir/die anderen bzw. Freund/Feind objektiviert wird. Die Literatur hingegen widersetzt sich de facto auf Grund des Reichtums und der Spezifität der durch sie übertragenen menschlichen Erkenntnisse solchen  beschreibenden Vereinfachungen, die im allgemeinen auf Isolation, Ausgrenzung und Gewalt hinauslaufen.

Allgemeiner betrachtet durchzieht das Bewusstsein, dass die Literatur eine Form teilnehmender  und emotionaler Erkenntnis sei, mit primärer Evidenz auch die Kontinentalphilosophie der letzten zwei Jahrhunderte. Schon Kant behauptete in seiner Kritik der Urteilskraft, dass «das Schöne bereitet uns vor, etwas, selbst die Natur ohne Interesse zu lieben»,[2] und bei der in ethischen Termini ausgedrückten Unterscheidung des Schönen vom Erhabenen stellt er fest, dass die Erfahrung des Schönen im Betrachter (oder Leser) «das Gefühl […] der Liebe und vertraulichen Zuneigung»[3] hervorrufe. Ähnlich äußert  sich auch Hegel in der Ästhetik:

«Der poetischen Auffassung und Ausgestaltung aber muß jeder Teil, jedes Moment für sich interessant, für sich lebendig sein, und sie verweilt daher mit Lust beim Einzelnen, malt es mit Liebe aus und behandelt es als eine Totalität für sich».[4]

Der emotionale und  teilnehmende Charakter der literarischen Erkenntnis ist eindeutig auch in der berühmten Unterscheidung Diltheys zwischen Verstehen in den Geisteswissenschaften und Erklären in den Naturwissenschaften vorhanden. Das erstere ist eine einfühlende Form von Erkenntnis, bei der das Subjekt persönlich einbezogen ist, während das zweite – typisch für die wissenschaftliche Methode – einen vom Gegenstand der Betrachtung entfernteren Standpunkt voraussetzt. Entlang dieser konzeptuellen Linie hat Gadamer in Wahrheit und Methode die künstlerische Erkenntnis als Horizontverschmelzung theoretisiert,  als einen zirkulären Prozess,  in dem,  was erkannt wird, nichts “anderes” als der Erkennende selbst  ist,  schlicht der  zweite Pol einer dialogischen Beziehung.

Auch Schriftsteller und Dichter haben – wie nicht anders zu erwarten – darüber nachgedacht, dass die Literatur als emotional angelegte Erkenntnisform eine reichere und ausdrucksfähigere Erkenntnis der Welt gestattet als die rein logisch-begriffliche. Unter vielen anderen soll hier Leopardi erinnert werden, der an einer Stelle im Zibaldone nahezu die Diltheysche Polarisierung zwischen Verstehen und Erklären vorwegzunehmen scheint:

«Es ist nicht genug, einen wahren Satz zu begreifen, man muss auch seine Wahrheit empfinden. Es gibt eine Empfindung für Wahrheit wie für Leidenschaften, Gefühle, Schönheit usw.: für das Wahre – wie für das Schöne. Wer sie begreift, aber nicht empfindet, begreift, was diese Wahrheit bedeutet, aber nicht, dass sie eine Wahrheit ist, weil er ihren Sinn – d.h. ihre Überzeugung – nicht empfindet».[5]

Eine auf ihren Erkenntnischarakter gegründete Ethik der Literatur gestattet, etwas zu klären, das auf den ersten Blick als ziemlich ernstes Problem erscheinen mag, wenn nämlich ein literarisches Werk explizit das Böse (Gewalt, Grausamkeit, Unterdrückung, Verachtung) darstellt und beschreibt, also das genaue Gegenteil vom Ethischen. Eins der historisch bedeutsamsten Beispiele in diesem Sinn sind Die Blumen des Bösen von Baudelaire, ein Werk, das schon im Titel die Schönheit des Bösen als zentrales Thema benennt: nicht nur unter ästhetisierendem Aspekt (das Böse in einer schönen, eleganten, poetisch einwandfreien Form), sondern auch und insbesondere in dem Sinn, dass Böses “schön” ist, will sagen, dass Böses tun angenehm sei. Das ist eine peinliche, aber schwer zu bestreitende Wahrheit angesichts der Tatsache, dass man dem Bösen selbst immer wieder begegnet; seine Erkenntnis ist gleichwohl wesentlich für jede reife und bewusste ethische Überlegung. Eben im Zeichen dieses Bewusstseins bietet sich die Literatur – auch jenseits der Fleurs du Mal – als bevorzugter Ort zur Erkenntnis des Bösen, insofern sie der ausdrucksstarke Kontext ist, in dem man das Böse in seiner Tiefe erkennt, unmittelbar und einfühlend, ohne es gleichwohl auszuüben oder ohne es faktisch zu erleiden, wie es in der realen Welt geschähe. Es liegt auf der Hand, dass Literatur, die über das Böse spricht (es beschreibt, beim Namen nennt und kennt) problematisch ist und dem Leser eine Art  Lektüre zweiten Grades abverlangt, die nicht naiv oder unmittelbar am Text haftet:  in Wahrheit ist aber das Böse die wirkliche Problematik und nicht die Literatur, die es erkennt und deutet.

Zusammenfassend: auch diejenigen Werke der Literatur, die das Böse beschreiben, es in seiner Entfaltung thematisieren und es als etwas präsentieren, das schön und angenehm zu tun sei, sind nützlich und vom ethischen Standpunkt bisweilen unverzichtbar. Wenn das aber stimmt, dann stürzt diese Einsicht die traditionelle Auffassung der literarischen Ethik in eine Krise, nämlich jene Erbauungs- und Inhaltsästhetik, derzufolge nur dasjenige Werk einen moralischen Wert haben kann, das positive Botschaften beinhaltet (oder sofern es sich um negative Modelle handelt, diese explizit als solche präsentiert und dabei zu einer unmittelbaren Verurteilung kommt oder das Verderben als Schicksal für sie bereithält).

[1] Martha C. Nussbaum, Poetic Justice. The Literary Imagination and Public Life, Beacon Press, Boston 1995.

[2] Immanuel Kant, Kritik der Urtheilskraft, in Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Bd. V, De Gruyter, Berlin 1968, S. 267.

[3] Ebd., S. 271.

[4] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, III, Die Poesie, hrsg. von Rüdiger Bubner, Reclam, Stuttgart 1971, S. 35.

[5] Giacomo Leopardi, Zibaldone di pensieri, a cura di Anna Maria Moroni, Mondadori, Milano 1983, I, S. 229 [349].

Pietas

Schon in der griechischen und römischen Klassik hat die Literatur sich selbst als einen Raum gesehen, dem die Fähigkeit innewohnt, Erinnerung an Personen und Ereignisse zu bewahren, die sonst der Vergessenheit anheimfallen würden: etwa der geliebte Mensch bei Sappho und bei Theognis oder die Thermopylenkämpfer bei Simonides von Keos. Diese Gedächtnisfunktion wurde zu einem konsolidierten topos, auf die Foscolo in seinen Sepolcri in voller Absicht zurückkam. Dieselbe  Funktion  inspiriert übrigens auch eine berühmte Stelle im Zibaldone, die für die Definition der Poetik Leopardis von zentraler Bedeutung ist. Darin wird der spezifische Gegenstand der Dichtung nicht als gegenwärtig gesehen, sondern als etwas, das räumlich und zeitlich in der Ferne liegt und daher im barmherzigen Licht der Erinnerung erfasst und bewahrt werden muss. In eben diesem Sinn ist für Leopardi Erinnerung oder Gedenken, die Aufmerksamkeit für etwas, das “nicht mehr ist”, da es fern, vergangen und verloren ist, ein «wesentliches und überwiegendes» Element des «poetischen Gefühls»:

«Ein beliebiger Gegenstand, beispielsweise ein Ort, eine Stätte, eine Landschaft, so schön sie auch sein mögen, sind eben nicht als poetisch anzusehen, wenn sie nicht irgendeine Erinnerung wecken. Die nämliche und auch eine Stätte, ein beliebiger Gegenstand, die in sich völlig unpoetisch sind, werden dann aber in der Erinnerung durchaus  poetisch. Erinnerung ist im poetischen Gefühl ganz wesentlich und überwiegend, einfach deshalb, weil das Gegenwärtige, was immer es sein mag, gar nicht poetisch sein kann; und das Poetische findet sich auf die eine oder andere Weise immer in der Ferne, im Verschwommenen, Ungefähren».[1]

Wie ersichtlich, kann das Gegenwärtige für Leopardi gar nicht poetisch sein, weil nur das Vergangene poetisch ist: aber das Vergangene ist eben deshalb poetisch, weil es die spezifische Aufgabe der Dichtung ist, das Vergangene, Vergehende, Vergängliche – das was war und nicht mehr ist – im erhaltenden Licht der Erinnerung zu bewahren.

Um auf die Philosophie zurückzukommen, so ist das Vorhaben, dasjenige im Gedächtnis zu bewahren, was andernfalls verlorenginge, ein zentrales Thema der Betrachtung W. Benjamins, der seinen Blick auf eine messianische Zeit richtet, die außerhalb der Geschichte liegt und in der alles Vergangene gerettet und erlöst wird, ohne zwischen großen und kleinen Ereignissen zu unterscheiden. Im Werk Benjamins wird diese bewahrende Aufgabe jeweils unterschiedlichen Begriffen anvertraut. In Die Aufgabe des Übersetzers (1923) ist das, was bewahrt wird, eine sprachliche Funktion («Jene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien, ist die Aufgabe des Übersetzers»);[2] aber schon in Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928) werden durch die Allegorie in der Erinnerung des Lesers Dinge, Personen und konkrete Ereignisse bewahrt («Ist doch die Einsicht ins Vergängliche der Dinge und jene Sorge, sie ins Ewige zu retten, im Allegorischen eins der stärksten Motive»).[3] Die gleiche bewahrende Aufgabe ist im Passagen-Werk dem Bild (oder dem dialektischen Bild) anvertraut und in den Thesen Über den Begriff der Geschichte (1940) dem Zitat. Wie man sieht, verweisen alle von Benjamin benutzten Begriffe, um diesen Rettungshorizont zu bestimmen («reine Sprache», Allegorie, Bild, Zitat), direkt in die literarische Sphäre: um die Tatsache zu bestätigen, dass einer der wesentlichsten Züge der Literatur eben derjenige ist, im Gedächtnis des Lesers das zu bewahren, was zerbrechlich, vergehend, marginal und dazu bestimmt ist, für immer zu verschwinden.

Diese Funktion der Literatur erscheint auch an einer zentralen Stelle in Wahrheit und Methode von Gadamer, wo er eingehend untersucht, was bei der Begegnung mit einem Kunstwerk geschieht. Der Anfang dieser Stelle klärt die Tatsache, dass das Kunstwerk eine Form der Erkenntnis sei, ein Zugang zur tiefsten Wahrheit der Dinge; am Ende stellt Gadamer aber auch fest, dass die künstlerische und literarische Erkenntnis ihre eigenen Gegenstände vor Verwirrung, Variabilität und Dispersion bewahrt, wovon sie überflutet sind. Sie werden vor dem im wesentlichen nur Kontakt erhaltenden Charakter der täglichen Mitteilungen bewahrt, und mit  pietas dem Gedächtnis des Lesers anvertraut.

«Was man eigentlich an einem Kunstwerk erfährt und worauf man gerichtet ist, ist vielmehr, wie wahr es ist, d.h. wie sehr man etwas und sich selbst darin erkennt und wiedererkennt. Was Wiedererkenntnis ihrem tiefsten Wesen nach ist, wird aber nicht verstanden, wenn man nur darauf sieht, daß da etwas, was man schon kennt, von neuem erkannt wird, d.h. daß das Bekannte wiedererkannt wird. Die Freude des Wiedererkennens ist vielmehr die, daß mehr erkannt wird als nur das Bekannte. In der Wiedererkenntnis tritt das, was wir kennen, gleichsam wie durch eine Erleuchtung aus aller Zufälligkeit und Variabilität der Umstände, die es bedingen, heraus und wird in seinem Wesen erfaßt».[4]

Die pietas – begriffen als mitfühlende Aufmerksamkeit gegenüber allem,  was sterblich, zerbrechlich und vergänglich ist – steht auch im Mittelpunkt von Gianni Vattimos “schwache Ontologie”; für Vattimo ist pietas eben jener «andere Ausdruck, der zusammen mit An-denken und Verwindung übernommen werden kann, um den schwachen Gedanken der Ultrametaphysik zu kennzeichnen».[5] Nach Heidegger kann man vom Sein kein volles Be-greifen haben, sondern lediglich Gedenken, Spuren, Erinnerungen; Sterblichkeit und Vergänglichkeit sind also keine dem endlichen Dasein vorbehaltenen Züge, sondern betreffen auch das Sein. Folgerichtig kann sich jede Erfahrung der Welt nur im Zeichen der Sterblichkeit vollziehen und das spätmoderne Subjekt ist nach Vattimo aufgerufen, ihr mit der pietas zu begegnen, «die den Spuren dessen gebührt, was gelebt hat».[6] Spezifischer Ort dieser pietas ist das literarische Werk, das verstanden werden kann als schwaches Denkmal, als etwas «Leises, Geringes»,[7] dessen zeitliche Wesenheit nichts anderes ist als die des Seins selbst: anders gesagt, ist ein Akt des Zeugnisses und der Erhaltung eines transitorischen, marginalen und zusammenhanglosen quid, das sich in der Zeit verlieren würde, wovon aber der Text Kunde und Erinnerung bewahrt.

Das literarische Werk ist demnach ethisch, weil es im Gedächtnis des Lesers das bewahrt, was dazu bestimmt ist, verloren zu gehen: insbesondere das, was niedrig, alltäglich und anscheinend irrelevant ist, wie meistens die in Romanen, Erzählungen und Gedichten beschriebenen Gegenstände. In ihrer bewahrenden Obhut bietet die Literatur ein ziemlich andersgeartetes Modell als das von der Marktwirtschaft offerierte. Diese arbeitet durch einen immer schnelleren Austausch aller Güter, die verbraucht und sofort durch andere ersetzt werden müssen. Aber diese ständige Verkürzung im Lebenszyklus der Produkte, die notwendig ist, um den Konsum aufrechtzuerhalten, impliziert in Wahrheit, dass die einzelnen Dinge (oder Personen) keine wirkliche Bedeutung haben, da sie ja alsbald wieder gegen andere eingetauscht werden: das, was zählt, ist der Gesamtprozess. Die Literatur hingegen blickt mit Zuneigung und Aufmerksamkeit auf alles, so marginal, unbeträchtlich, unproduktiv oder irrelevant es auch sein mag,  hält es für bewahrenswert und zeigt somit, dass es möglich ist, sich der Logik des Marktes und ihrer Anwendung auf die ganze reale Welt zu entziehen.

[1] Giacomo Leopardi, Zibaldone di pensieri, a cura di Anna Maria Moroni, Mondadori, Milano 1983, II, S. 1166 [4426].

[2] Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, in Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, hrsg. von Tillman Rexroth, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1991, S. 19.

[3] Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in Gesammelte Schriften, Bd. I/1, hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1991, S. 397.

[4] Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Mohr, Tübingen 1960, S. 109.

[5] Gianni Vattimo, Dialettica, differenza, pensiero debole, in Aa. Vv., Il pensiero debole, a cura di Gianni Vattimo e Pier Aldo Rovatti, Feltrinelli, Milano 1983, S. 22.

[6] Ebenda.

[7] Ebd., S. 28.

Orientierung

Eines der Sinnbilder, das am eindrucksvollsten den punktförmigen Charakter der literarischen Erkenntnis und die daraus resultierende Orientierung veranschaulicht, wird durch Sterne vermittelt. So erscheint das Sternensymbol häufig in einer so typisch  autoreferenziellen  (d.h. über sich selbst  sprechenden) und poetologischen  (d.h.  über Dichtung im allgemeinen sprechenden) Poesie wie der von Mallarmé. Besonders bemerkenswert hierbei ist, dass das Sternensymbol bei Mallarmé als Pendant zum Sonnenuntergang verwendet wird, der seinerseits das Verschwinden der persönlichen Illusionen und den Wegfall des religiösen Glaubens, der historischen, politischen und kulturellen Grundlagen des 19. Jahrhunderts versinnbildlicht oder – anders gesagt – unmittelbar auf das Phänomen des europäischen Nihilismus verweist. In diesem Sinn ist es auch  kein Zufall, wenn in den gleichen Jahren – ohne einander zu kennen – auch Nietzsche das Bild des Sonnenuntergangs ausdrücklich verwendet, um den Tod Gottes anzudeuten.[1] In diesem Kontext von Nacht und Dunkelheit drückt sich die Dichtung Mallarmés bildhaft durch die Gestirne  aus: das «Septett funkelnder Lichter»,  welches das Sonnet en -yx  beschließt oder die «von Vergessen und Überalterung kalte Konstellation», in die sich letztlich der Coup de dés verwandelt, sind Lichter, die sich am Himmel abzeichnen, um eine Vielfältigkeit von Bedeutungen aufzuzeigen und eine Orientierungsmöglichkeit zu suggerieren. Nicht selten kreuzen sich bei Mallarmé das Sternensymbol und die ebenfalls autoreferenzielle Metapher der Schiffahrt, um zu sehr dichten Formulierungen  wie «Einsamkeit, Klippe, Stern» in Gruß oder dem entsprechenden «Nacht, Verzweiflung und Edelsteine» im Sonett an Vasco zu gelangen: Triptycha, die den menschlichen Preis der poetischen Erfahrung zum Ausdruck bringen, das Risiko, nachts Schiffbruch zu erleiden,  sowie die Orientierungsfunktion der Poesie, deren Sternenlicht (oder diamantenes Licht) gestattet, sich in einer verdunkelten Welt zu orientieren und den eigenen Kurs festzulegen.

Weniger direkt erscheint diese Orientierungsfunktion der Literatur auch bei Benjamin, insbesondere in den Werken, die die moderne Großstadt als spezifischen Ort und als besonders geeignetes Bild für eine Vielfältigkeit von Personen, Dingen und Botschaften analysieren, die sich nicht mehr auf ein einheitliches Prinzip zurückführen lässt. In diesem Sinn, so suggerieren die Aufzeichnungen im Passagen-Werk, irrt der Pariser Flaneur nicht  verloren durch die Metropole, sondern orientiert sich an den Schwellen und Straßennamen. Diese letzteren haben gleichwohl einen ambivalenten Status zwischen Ordnung («Die Stadt ist durch die Straßennamen Abbild eines sprachlichen Kosmos»)[2] und Chaos («Was die Großstadt der Neuzeit aus der antiken Konzeption des Labyrinths gemacht hat. Sie hat es, durch die Straßennamen, in die Sphäre der Sprache erhoben, aus dem Straßennetz», in welches die Stadt sich gliedert).[3] Vor allem aber sind die Straßennamen keine schlichten toponomastischen Hinweise; sie sind regelrechte symbolische Kerne – oder poetische Worte. Organisch an das gebunden, was sie bezeichnen, sind sie geeignet, «unser Wahrnehmen sphärenreicher und vielschichtiger zu machen, als es im gewöhnlichen Dasein ist».[4]

«Der innere Glanz der Passagen erlosch mit dem Aufflammen der elektrischen Lichter und verzog sich in ihre Namen. Aber nun wurde ihr Name wie ein Filter, der nur das innerste, die bittere Essenz des Gewesnen hindurchließ. (Diese wunderbare Kraft, die Gegenwart als innerste Essenz des Gewesnen zu destillieren, gibt ja für wahre Reisende dem Namen seine aufregende geheimnisvolle Macht)».[5]

Eine analoge Funktion der Orientierung über Namen,  will sagen durch poetische Worte, kehrt auch in Berliner Kindheit um Neunzehnhundert wieder. In dieser Sammlung autobiographischer Stücke insistiert Benjamin auf einer ganz  besonderen, namengebenden Tätigkeit, indem er die Art und Weise beschreibt, in der er als Kind der Realität seiner Umgebung einen Sinn gab: er wirkt auf die Namen von Straßen, Märkten, Stadtteilen und Denkmälern von Berlin ein, indem er sie leicht verändert und somit willkürliche, aber stimmungsvolle Assoziationen schafft, die voll neuer Bedeutung sind. So erinnert Benjamin z.B. den Ort, an dem er auf Schmetterlingsjagd ging:

«Die Luft jedoch, in der sich dieser Falter damals wiegte, ist heute ganz durchtränkt von einem Wort, das seit Jahrzehnten nie mehr mir zu Ohren noch über meine Lippen gekommen ist. Es hat das Unergründliche bewahrt, womit die Namen der Kindheit dem Erwachsenen entgegentreten. Langes Verschwiegenwordensein hat sie verklärt. So zittert durch die schmetterlingserfüllte Luft das Wort “Brauhausberg”. Auf dem Brauhausberge bei Potsdam hatten wir unsere Sommerwohnung. Aber der Name hat alle Schwere verloren, enthält von einem Brauhaus überhaupt nichts mehr und ist allenfalls ein von Bläue umwitterter Berg, der im Sommer sich aufbaute, um mich und meine Eltern zu behausen. Und darum liegt das Potsdam meiner Kindheit in so blauer Luft, als wären seine Trauermäntel oder Admirale, Tagpfauenaugen und Aurorafalter über eine der schimmernden Emaillen von Limoges verstreut, auf denen die Zinnen und Mauern Jerusalems vom dunkelblauen Grunde sich abheben».[6]

Wie man sieht, stammt die blaue  Farbe, die die Erinnerung an diesen Ort prägt und verklärt, vom ersten Teil Brau des  Kompositum Brauhausberg, den sich der Protagonist durch seine kindliche Aussprache aneignete, indem er den Buchstaben “r” in ein “l” verwandelte – und eben dieser Eingriff schafft den ganz neuen Zauber. In einem anderen Kapitel der Berliner Kindheit sagt Benjamin: «Das Mißverstehen verstellte mir die Welt. Jedoch auf gute Art; es wies die Wege, die in ihr Inneres führten. Ein jeder Anstoß war ihm recht. […] Wenn ich dabei mich und das Wort entstellte, tat ich nur, was ich tun mußte, um im Leben Fuß zu fassen».[7] Aber diese spontane Arbeit an der sprachlichen Materialität ist eine (auch technisch) ausgesucht poetische Tätigkeit; so wie der zentrale und ursprüngliche Kern der literarischen Erfahrung in der Sinngebung durch Namen besteht. So können sowohl der Flaneur des Passagen-Werks als der Protagonist der Berliner Kindheit in spezifischeren Termini das von sich sagen, was Ungaretti in La pietà  so ausdrückt: «Ich habe das Schweigen mit Namen belebt», d.h. ich habe einen sonst amorphen und de-semantisierten Raum mit poetischen Bedeutungen erfüllt und ihn somit an einer neuen Kartographie orientiert.[8]

[1] Vgl. insbesondere § 343 in Fröhliche Wissenschaft.

[2] Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in Gesammelte Schriften, Bd. V/2, hrsg. von Rolf Tiedemann, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1991, S. 1008 (F°, 20).

[3] Ebd., S. 1007 (F°, 19).

[4] Ebd., S. 1021 (L°, 25).

[5] Ebd., S. 1002 (D°, 6).

[6] Walter Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, in Gesammelte Schriften, Bd. IV/1, hrsg. von Tillman Rexroth, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1991, S. 245.

[7] Ebd., S. 260-261.

[8] Mehr zu dieser Thematik bei Pino Menzio, Orientarsi nella metropoli. Walter Benjamin e il compito dell’artista, Moretti & Vitali, Bergamo 2002.